„Die Transformation braucht utopisches Denken“

Interview mit dem NaturFreunde-Vorsitzenden Michael Müller

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NATURFREUNDiN Es gibt einen neuen Begriff, der Mode macht: die große Transformation. Was kann man sich darunter vorstellen?

Michael Müller Na, so neu ist der Begriff nicht! „Die große Transformation“ geht zurück auf den österreichisch-ungarischen Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi. Der suchte in den 1940er-Jahren nach einer Erklärung für die großen Katastrophen der Menschheit: Erster Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise 1929, die Ausrottung der europäischen Juden, der Zweite Weltkrieg. Wie konnte es dazu kommen? Polanyis These war, dass solche Katastrophen nur durch eine – wie er es nennt – „Entbettung“ der Ökonomie aus der Gesellschaft möglich waren – durch eine „Marktgesellschaft“ also.

NFiN Entbettung?

MM Bis zur industriellen Revolution war die Ökonomie Teil des Gemeinwesens. Sie war sozusagen in sie eingebettet, zum Beispiel über regionale Kreisläufe oder lokale politische und wirtschaftliche Strukturen. Aber dann aber kam die Dampfmaschine.

NFiN Der technische Fortschritt!

New Deal
Zwischen 1933 und 1938 reagierte US-Präsident Franklin Roosevelt auf die Weltwirtschaftskrise mit staatlichen Programmen. Dazu kamen langfristige Reformen: Der Sozialstaat wurde eingeführt, arbeitsrechtliche und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen initiiert. Kritiker merkten an, dass die Machtverhältnisse im Kapitalismus durch diesen „New Deal“ nicht substanziell verändert wurden. Andere erklärten, dass er den USA in einer Zeit der Krise die Demokratie bewahrt habe.

MM Genau. Der hatte eine unglaubliche Dynamik und ein großes Wirtschaftswachstum zur Folge. Ohne Zweifel hatte das Vorteile für einen Teil der Menschen. Gleichzeitig führte diese Dynamik aber auch zur Zuspitzung des Kapitalismus: Zutage traten die Gier und der Egoismus. Die sozialen Schutzschichten wurden immer dünner und zerstört. Damals haben sich die Widersprüche des Kapitalismus entweder in nationalistisch-faschistischem Denken entladen – wie etwa in Europa oder Japan. Oder aber der Politik gelang es zu reagieren – wie in den USA: Dort wurde mit dem „New Deal“ eine soziale Form des Kapitalismus eingeführt – der Wohlfahrtsstaat.

NFiN Jetzt ist der Begriff „die große Transformation“ bei uns im Hier und Jetzt angekommen. Wieso?

MM Weil es wieder zu einer Entbettung der Ökonomie gekommen ist: zum Finanzkapitalismus. Wir erleben heute nichts anderes als eine Neuauflage von Polanyis Bewertung. Begonnen hatte diese Entwicklung im Jahr 1971, als der damalige US-Präsident Richard Nixon den Vertrag von Bretton Woods und damit die Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit aufkündigte und stattdessen den Geschäftsbanken das Kommando über die Wirtschaft übertrug. Das hatte jedoch – anders als behauptet und von Nixon erhofft – kein größeres Wirtschaftswachstum zur Folge. Stattdessen kam es zu einer enormen Aufblähung des Geldkapitals, und zugleich wurde in der Folge der Wohlfahrtsstaat demontiert.

NFiN Auch heute gelten die Finanzmärkte als extrem aufgebläht.

MM Genau, viel gravierender aber ist: Das Geld dient nicht mehr, es herrscht jetzt. Dazu kommt, dass durch die Megatrends der Globalisierung und der Digitalisierung die Regulatoren wie „der Staat“ weiter an Einfluss verloren haben. Damit ist das alte Nachkriegsmodell des Wohlfahrtsstaates endgültig vorbei. Hinzu kommen die ökologischen Grenzen des Wachstums wie zum Beispiel der Klimawandel. Deshalb kann es keine Rückkehr zur alten Wachstumspolitik der Sozialen Marktwirtschaft geben. Entweder das Geldkapital stürzt uns von einer in die nächste Krise, wie wir es derzeit erleben. Oder es gelingt ein neuer „New Deal“: der ökosoziale Umbau der Gesellschaft, die große Transformation, Teil zwei.

NFiN Gesellschaftsumbau war bislang immer Ergebnis entweder einer technologischen oder einer menschengemachten Revolution. Was brauchen wir heute?

Nachhaltigkeit
Eine Form des Umgangs mit Ressourcen, die deren Regenerationsfähigkeit und die Bedürfnisse künftiger Generationen berücksichtigt. Nachhaltiges Handeln ist ökologisch und ökonomisch durchhaltbar.

MM Beides! Der grüne Umbau der Wirtschaft funktioniert nur mit neuen Technologien. Das zeigen Solarzellen genauso wie Wärmepumpen oder Wellenkraftwerke. Aber die Energiewende zum
Beispiel muss eben mehr als „nur“ neue Technologie sein: Die Energiewende braucht eine gesellschaftliche Revolution wieder hin zu mehr Dezentralisierung und zu mehr Verteilungsgerechtigkeit. Und es geht bei der Energiewende eben nicht nur um Strom aus erneuerbaren Energien, sondern um eine ganz neue, vor allem auf Vermeidung ausgerichtete Umgangsform mit Rohstoffen!

NFiN Das Wesen des kapitalistischen Wirtschaftsprinzipes ist aber, so viel wie möglich zu konsumieren. Nur wenn eine Ware oft verkauft wird, ist es möglich, den Profit zu steigern. Ist der Kapitalismus das falsche Wirtschaftssystem für die Energiewende?

MM Es geht natürlich um eine Neugestaltung der Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung; um die Frage, ob der Kapitalismus lernfähig ist oder beseitigt werden muss. Umweltgruppen werfe ich vor, dass sie diesen wesentlichen Punkt einfach nicht richtig erkennen. Die Energiewende wird nicht funktionieren, wenn das aktuelle Wirtschaftssystem einfach weitergeführt wird – nur dass statt Kohle dann die Erneuerbaren der Treibstoff sind. Es geht schon um wirtschaftliche Macht, um Strukturen, die verändert werden müssen.

NFiN Bitte konkret: Wie sieht große Transformation - die Ökologisierung der Wirtschaft aus?

MM Eine Ökologisierung der Wirtschaft ist eng mit sozialer Gerechtigkeit verzahnt. Eine Ökologisierung der Wirtschaft kann nur funktionieren, wenn es zu einer Demokratisierung der Wirtschaft kommt. Die Energiewende zum Beispiel: Wenn Millionen Menschen in Solardächer oder Windkraftfonds investieren, hat das einerseits millionenfach dezentrale Kraftwerksstrukturen zur Folge. Andererseits sorgt das auch für mehr Dezentralität in den Entscheidungsstrukturen: Wer eine Solaranlage auf dem Dach hat, der interessiert sich anders für das Produkt Strom, als der, der Strom nur aus der Steckdose kennt.

NFiN Die große Transformation funktioniert also nur über die Energiewende?

2.000-Watt-Gesellschaft
Ein energiepolitisches Modell, nach dem weltweit 2.000 Watt Primärenergie pro Person und Jahr nachhaltig zur Verfügung stehen, wenn jeder Mensch ein Anrecht auf die gleiche Menge an Energie hat. Diese 2.000 Watt gelten auch als die Menge, die ein Leben in Wohlstand und mit hoher Qualität ermöglichen. Drei Strategien ermöglichen den Weg in die 2.000-Watt-Gesellschaft:
Effizienz das Gleiche mit weniger Verbrauch
Konsistenz das Gleiche machen, aber anders
Suffizienz auf das Notwendige beschränken

MM Sie ist der Anfangsbaustein für eine Ökologisierung der Wirtschaft: Wir müssen zur Mitte dieses Jahrhunderts eine 2.000-Watt-Gesellschaft auf solarer Basis werden. Das bedeutet: raus aus der Braun- und Steinkohle, allenfalls für eine Übergangszeit einige Gaskraftwerke zur Regulierung des Systems. Wir müssen die Priorität auf Effizienz legen, auf Einsparung. Die Energiewende braucht eine Kultur der Vermeidung unnötiger Energienutzung, eine Kultur des Einsparens.

NFiN Es ist heute billiger, ein neues Paar Schuhe zu kaufen, als das alte Paar zum Schuster zu bringen. Die Ökologische Steuerreform hatte sich Ende der 1990er Jahre zum Ziel gesetzt,
das zu ändern: Arbeit sollte billiger, Energie aber teurer werden. Leider ist die Ökologische Steuerreform irgendwo stehen geblieben. Wie können wir diese Wegwerfgesellschaft ändern?

Ökologische Steuerreform
Ein einfaches Prinzip: Energieverbrauch und die Verursachung von umweltschädlichen Emissionen werden mit höheren Steuern belegt. Das führt zu einem sparsameren Einsatz von Ressourcen und entsprechenden technischen Innovationen.

MM Die Diskussion über die Wegwerfgesellschaft begann in den 1970er-Jahren und ist immer mal wieder hochgekommen, aber nie konsequent umgesetzt worden, auch wenn es ein Kreislaufwirtschaftsgesetz gibt. Ich glaube, dass die Menschen bereit sind, sich für etwas Gutes zu engagieren. Und wenn das so ist, kommt es darauf an, klar zu machen, dass eine bessere Qualität bei Schuhen mir langfristig mehr hilft als Wegwerfschuhe. Bessere Schuhe sind nicht teurer, sie haben eine andere Amortisationszeit. Wir brauchen also Ideen und Verteilungsgerechtigkeit, damit es allen Menschen möglich wird, sich bessere Qualität auch leisten zu können.

NFiN Die große Transformation ist also in erster Linie ein Bildungsprojekt?

MM Sie ist AUCH ein Bildungsprojekt: ein Einstellungs-und Sozialprojekt. Hätte das Allgemeinwohl absoluten Vorrang vor privatem Reichtum, wäre das für den Erhalt der Natur hilfreicher als etwa ein Umweltgesetz oder eine effizientere Technologie, so wichtig sie auch sind.

NFiN Heißt das, wir verbieten Menschen, 50 Schuhe binnen eines Jahres zu kaufen, weil es zu viele Ressourcen verbraucht und deshalb gegen die Interessen der Allgemeinheit verstößt?

Energieeffizienz
Misst den Energieaufwand, der für einen festgelegten Nutzen benötigt wird. Je höher die Energieeffizienz bei gleichbleibendem Nutzen, desto größer die Energieeinsparung.

MM Es muss vielmehr um Aufklärung und Vernunft gehen. Ein großes Vorstadthaus zum Beispiel mit riesigem Garten und dickem SUV ist nicht vereinbar mit den ökologischen Bedingungen unseres
Lebens. Das belegen die Belastungsgrenzen unseres Planeten genauso wie der ökologische Fußabdruck. Der ist in Deutschland 4,6-mal höher als die zur Verfügung stehende biologische
Kapazität unseres Landes. Das heißt: Wir leben in Deutschland im Durchschnitt 4,6-fach über unsere Verhältnisse. Spätestens unsere Nachfahren werden dafür bezahlen müssen.

NFiN Wir hatten gerade erst die Wahl, eine Bundestagswahl, in der die Grünen etwa für ihren Fleischverzichtstag abgestraft wurden. Wie soll es gelingen, eine Mehrheit für die große Transformation zu finden?

MM Die Grünen haben programmatisch nicht sonderlich viel für eine große Transformation angeboten. Davon bin ich enttäuscht. Viel dramatischer ist es mit meiner eigenen Partei: Die Sozialdemokratie wird keine Zukunft haben, wenn sie sich nicht den ökologischen Fragen öffnet. Die SPD braucht eine Erneuerung, sie muss zu einer Transformationspolitik bereit sein. Und die Linkspartei muss klären, was sie unter Fortschritt versteht.

NFiN Die größte Fraktion bei der letzten Wahl war die der Nichtwähler, gefolgt von der Union mit gut 40 Prozent. Ein Drittel der abgegebenen Stimmen ist nicht im Parlament vertreten: AfD, FDP, andere Kleinparteien. Das bedeutet: Wir reden hier über ein Viertel der Gesellschaft!

MM Das glaube ich eben nicht! Die Entpolitisierung hat damit zu tun, dass die Politik immer mehr in den Windkanal von Wählererwartung schlüpft, aber immer weniger Werte und Visionen
vertritt. Als Willy Brandt Ende der 1960er die Ostpolitik begann, war er in absoluter Minderheit. Aber er kämpfte für eine richtige Idee. Genau dasselbe ist heute die große Transformation, sie erfordert ein sozialutopisches Denken.

NFiN Die Ostpolitik war sehr real. Man hatte Verwandte auf der anderen Seite, eine gemeinsame Vergangenheit und Kultur. Sie vergleichen das mit dem Umbau des Kapitalismus?

MM Es geht um die Frage, ob unsere Gesellschaft eine Zukunft haben wird, ob die Demokratie bestehen bleibt und in der Lage ist, die Zukunftsfrage der Spezies Mensch zu beantworten! Demokratie ist erst einmal ein Prinzip. Die entscheidende Frage ist, ob die Politik und die Parteien in der Lage sind, die Demokratie auszufüllen.

NFiN Zurück zur großen Transformation: Was sind die ersten Schritte, die getan werden müssen?

MM Der erste und wichtige Schritt ist die Rückkehr zum „utopischen Denken“. Was heute die Politik bestimmt, ist das scheinbar Machbare. Politik muss aber wieder von dem Notwendigen
bestimmt werden. Also sollten wir über das Notwendige reden, um dann das Machbare zu erreichen. Ein zweiter wesentlicher Punkt ist die erfolgreiche Energiewende, sie ist der Einstieg in den ökologischen „New Deal“. Drittens: Wir müssen mehr Demokratie wagen – in Deutschland wie in Europa.

Das Interview mit Michael Müller führte Nick Reimer.
Es erschien zuerst in der NATURFREUNDiN 4-2013 (S. 4).