Mit dem Elektro-Bike 1.400 Kilometer entlang des Grünen Bandes

Ein Bericht des Herforder NaturFreundes und Historikers Dr. Heinrich Pingel

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Schierke im Ostharz, drei Uhr morgens. Ohne Wecker wache ich auf, bin nervös, kann nicht mehr schlafen. Sonnenaufgang auf dem Brocken? Das wär doch was. Ohne Frühstück werden die Sachen gepackt – wie immer ein Akt bei dem ganzen Gepäck.

Ich möchte auf den geografisch höchsten Punkt (1.141 m) meiner sechswöchigen Radtour auf dem Grünen Band entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Von Hof bis nach Travemünde. Dabei immer schön von Ost nach West und zurück – wie so oft in meinem Leben als Flüchtlingskind, das noch in den Fünfzigerjahren im thüringischen Eichsfeld eingeschult und seit 1956 im Westen erwachsen wurde. Meine „Grenzgänger-Tour“ ist auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, zur Selbstfindung und Neuorientierung – wenige Monate vor dem 70. Geburtstag.

In der Dämmerung komme ich an zahllosen kranken, zum Teil abgeholzten Bäumen vorbei. Gespenstisch. Sind das die Folgen der Umweltverschmutzung? Ich kurbele mein Pensum herunter wie ein Uhrwerk. Alles läuft. Auch dank des E-Bikes, das mich bisher knapp 1.000 Kilometer über Kolonnenwege, Äcker, Waldwege, querfeldein sowie kleine Straßen links und rechts der ehemaligen Grenze treu begleitet hat.

Das Grüne Band
Dezember 1989: In der Gaststätte Eisteich in Hof treffen sich 400 Umweltschützer* innen aus Ost und West, um die Erhaltung der Natur an der bisherigen innerdeutschen Grenze zu fordern. Heute ist der 50 bis 200 Meter breite und fast 1.400 Kilometer lange Geländestreifen zwischen Hof und Travemünde in vielen Bereichen geschützt und bildet den größten Biotopverbund Deutschlands – das Grüne Band. Einen durchgehend komfortablen Rad- oder Wanderweg gibt es noch nicht.
www.bund.net/gruenes-band

Auf dem Brocken eines der schönsten Erlebnisse

Dann ist der Brocken geschafft: Mich überkommen die Emotionen. Ein paar Tränen trocknet der Wind, genau wie bei meinem Berlin-Marathon im Jahr 1996, als ich zum ersten Mal „frei“ durch das Brandenburger Tor lief – ohne Mauer und Zaun. Auf dem Brocken genieße ich den Sonnenaufgang im Osten und blicke dann vom Brockenstein aus in den Westen. Ein Symbol für die ganze Reise und eines der schönsten Erlebnisse dieser Tour.

Es ist der 31. Tag und ich ziehe eine vorläufige Bilanz: Ich empfinde große Dankbarkeit für die Möglichkeit, in meinem 70. Lebensjahr diese körperlich zum Teil doch sehr anstrengende Fahrradtour machen zu können. Der Sturz über Baumwurzeln am zweiten Tag ist fast schon vergessen, ebenso die immer wiederkehrenden Platten. Viel prägender sind die vielen Gespräche, die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in Ost und West, mehr aber im Osten. Vier Jahrzehnte DDR, aber auch die nahezu 30 Jahre nach der Wende, sind im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar.

Unterschiedliche Erfahrungen in Ost und West

Auf der Reise begleitet mich zweitweilig mein Freund Dors Prokob (ohne eigenen DDR-Hintergrund), später dann auch meine Töchter. Schon am ersten Tag treffen wir im thüringisch-bayerischen Mödlareuth einen ehemaligen DDR-Grenzsoldaten. Er erzählt, wie er an einem warmen Sommertag Mitte der sechziger Jahre von einer bayerischen Hausfrau auf Zuruf ein paar Flaschen Bier erhielt. Wir sprechen mit einer Frau, deren Betrieb 1990 im thüringischen Hirschberg geschlossen wurde und die sich dann im Westen eine neue Arbeitsstelle suchte. Nach zwei Jahren war erneut Schluss. Enttäuschung und Verbitterung. Verständlich. Viele (Mentalitäts-) Unterschiede zwischen Ost und West sind immer noch spürbar. Die junge Frau in der Pizzeria allerdings, etwa Mitte 30, sieht keine Unterschiede mehr zwischen Ost und West.

Auf dem Brocken werden all die Erinnerungen wieder wach. Auch an die vielen immer noch sichtbaren Relikte der Grenzbefestigung. Auch an den schon beängstigenden Jahrhundertsommer mit bis zu 37 Grad Celsius Tag für Tag. Auch an die zahllosen Steigungen im thüringisch- fränkischen Grenzgebiet, die selbst mit dem E-Bike eine sportliche Herausforderung darstellen.

Aussteigerkommune am Grenzzaun

Bei Probstzella in den Bergen zum Beispiel verfahren wir uns und sind total kaputt. Mit letzter Kraft überqueren wir einen Gipfel und rollen bergab. Eine freundliche Bäuerin ist unsere letzte Rettung: Wir dürfen die Steckdose ihres Kuhstalls für das Aufladen unsere Akku nutzen.

Nur mit Glück kommen wir in Tettau nach einer langen Steigung an, die letzten 1,5 Kilometer bei 16 Prozent. Dort steht der Bauernhof einer ehemaligen Aussteigerkommune. In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre sind sie als studentische Revoluzzer (Roter Kampf) von Offenbach ins fränkische Grenzgebiet gekommen, der Grenzzaun nur 100 Meter entfernt. Man erzählt vom Argwohn der Dorfbewohner, aber auch von der langsam wachsenden Anerkennung im Laufe der Jahre durch den Einsatz auf dem Bauernhof und als Kachelofenbauer.

Wunderschöne Radwege entlang der Elbe

Nach dem Brocken geht es wieder weiter auf dem Grünen Band. In einem kleinen Ort am Arendsee in der Altmark treffen Dors und ich den ehemaligen DDR- und heutigen BUND-Umweltaktivisten Jürgen Starck. Wir sind beeindruckt, wie er uns an der Wirlspitze auf dem ehemaligen Todesstreifen die Geschichte der deutsch-deutschen Teilung erklärt. In der Dämmerung meint er einen der seltenen Ziegenmelker aus der Vogelfamilie der Nachtschwalben zu hören.

Die restlichen Tage sind mit einem Besuch in Gorleben und den wunderschönen Radwegen entlang der Elbe ausgefüllt. In Techin kurz vor Ratzeburg geht es allerdings nicht weiter: Urwald. Nach dem dritten querliegenden Baum und viel Gestrüpp wird umgedreht. In der Nähe eine Schafherde. Eigentlich eine Naturidylle wie an so vielen anderen Stellen auf dieser Radtour. Nach 43 Tagen komme ich schließlich glücklich, aber auch körperlich ausgelaugt an der Ostsee an, nur wenige Meter vom Naturfreundehaus Priwall (C 2) entfernt. Es ist geschafft, ich bin dankbar und stolz.

Das Grüne Band ist definitiv eine Radtour wert, besonders wegen der Begegnungen und der allzeit spürbaren Geschichte. Und das Erlebnis einer noch oft unberührten Natur natürlich nicht zu vergessen.

Heinrich Pingel
www.grenzgaengertour2018.de

Weitere Bilder

Galerie Radtour grünes Band

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23570 Lübeck-Travemünde
Übernachtungsplätze vorhanden
vollbewirtschaftet