von Gudrun D. Greth
Der folgende Blick in die Biografie des ersten Nachkriegs-Landesjugendleiters und späteren Geschäftsführers der NaturFreunde Württemberg, Karl Pfizenmaier aus Stuttgart, zeigt exemplarisch die Vielschichtigkeit der Frage des Arbeiter*innen- und Jugendwiderstands gegen Faschismus und Krieg und seiner Schlussfolgerungen. Mit der Überlassung seines politischen Nachlasses für die Forschung leistet seine Schwiegertochter Brigitte Pfizenmaier einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der NaturFreunde und ihrer Mitglieder.
In jeder Ortsgruppe lassen sich die Biografien von Mitgliedern erforschen, die als NaturFreund*innen Widerstand gegen den Faschismus geleistet haben und sich für eine friedliche und gerechte Welt einsetzten. Viele wurden im Widerstand ermordet oder fielen im Krieg. Diejenigen, die die Konzentrationslager der Nazis überlebten und zurückkamen, waren sich sehr bewusst, dass am 8. Mai 1945 der Faschismus keineswegs endgültig besiegt war. Sie wussten, dass das „Nie wieder!“, auf das sie sich selbst und uns als nachkommende Generationen verpflichteten, nur durch die Anstrengung jedes*r Einzelnen und der Gesellschaft für eine solidarische Welt ohne Kriege möglich ist. Ihre antifaschistische Haltung und Erfahrung brachten sie ein in die Bildungs-, Kultur- und Jugendarbeit der NaturFreunde durch Berichte, Vorträge, Gedenkreisen und aktive Mitwirkung am Wiederaufbau des Verbands.
Die Erforschung solcher Biografien und die Sichtung von Nachlässen ermöglicht die Erzählung der „Geschichte von unten“ und trägt bei zur Klärung der Fragen „Worauf können wir stolz sein?“ und „Was hätte anders gemacht werden sollen?“ – Fragen, die Schlussfolgerungen für unser heutiges Engagement ermöglichen.
Karl Pfizenmaier wird als Neunjähriger in Stuttgart politisiert, als er erlebt, wie Korpsstudenten einen unbewaffneten Straßenbahner erschießen. In einer der von Edwin Hörnle gegründeten kommunistischen Kindergruppen sammelt er mit Freund*innen beim Zirkusspielen Geld für die hungernden Menschen in Russland. Weitere biografische Stationen des 1970 an Haftfolgen früh verstorbenen NaturFreunds in Stichworten:
Freie Sozialistische Jugend * Kommunistische Kindergruppe * Kommunistische Jugend Deutschland (KJD) * Rote Hilfe * Internationale Arbeiterhilfe * Touristenverein „Die Naturfreunde“ * Arbeiterschwimmerverein Groß-Stuttgart * Jung-Spartakus-Bund * Rotfrontkämpferbund * Antifaschistische Aktion * Mechanikerlehre * KJVD (Kassier, Agit-Prop-Leiter) * erwerbslos * Hilfsarbeiter in einer Schuhfabrik * Mitglied im Erwerbslosenausschuss Stuttgart-Ost * Herausgeber „Der Rote Osten“ * KPD-Funktionär * Leiter des RFB Württemberg * Chiffrierkursleiter im Waldheim * Nachrichtendienstler im AM-Apparat der KPD * M-Schule Barkovka bei Moskau * illegale KPD-Betriebs-Arbeit in Berlin * Reichsarbeitsdienst im Remstal * Schlosser/Mechaniker bei Daimler Untertürkheim in Entwicklungs- und Versuchsabteilung * Organisation von geheimen Treffen KPD-KPO * Heirat * Ablehnung weiterer Illegalität * Verhaftung * Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Schutzhaftbefehl * Gestapo-Vernehmungen * Kammergericht Berlin Urteil: 1 ½ Jahre Gefängnis * Strafhaft im Gefängnis Berlin-Tegel * U-Haft in Stuttgart wegen Hoch- und Landesverrat * Verhöre * Suizidversuch * Prozess beim Volksgerichtshof in Berlin, Urteil: 4 Jahre Gefängnis * Strafhaft im Landesgefängnis Ulm – Kriegsausbruch, Schläge, Hunger * „Schutzhaft“ und Zwangsarbeit im KZ Welzheim * KZ Dachau mit Zwangsarbeit im Kommando Deutsche Ausrüstungsschlosserei * KZ Majdanek/Lublin * Todesmarsch nach Auschwitz * KZ Auschwitz mit Zwangsarbeit im Kommando Union * Todesmarsch nach Mauthausen * KZ Mauthausen – Aktenvermerk „Rückkehr unerwünscht“ * Zwangsarbeit im KZ Nebenlager Saurer Werke Wien * Außenlager Steyr-Münichholz * Todesmarsch ins KZ Gusen * Befreiung * Krankenhaus Linz/Donau * Rückkehr nach Stuttgart * Arbeit im Ernährungs-/Wirtschaftsamt * Erster Landesjugendleiter des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ * Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) * Leiter der Geschäftsstelle der NaturFreunde Württemberg * Zuweisung von Mobiliar des einsitzenden Gestapoangestellten Heidelberger * 1. Jugendtag der NaturFreunde Württemberg in Esslingen.
„Die Opfer und Leiden, die der Faschismus gefordert hat, dürfen nicht umsonst gewesen sein. Ein neuer Geist, eine neue menschliche Haltung müsse werden (…). Grenzsteine können und dürfen keine Hemmsteine zur friedlichen und sozialen Entwicklung Europas und der Welt sein, soll die menschliche Gesellschaft nicht untergehen.“
Karl Pfizenmaier am 11.9.1948 in Esslingen beim ersten Jugendtag des Touristenvereins „Die Naturfreunde“
Karl Pfizenmaier hat erst spät erfahren, dass in seiner Heimatstadt Stuttgart in der Nacht zum 11. März 1933 rund 200 politische Gegner*innen verhaftet, in der Reithalle gesammelt und über eine Kaserne in Ulm in das neu gegründete „Schutzhaftlager“ auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt verschleppt wurden. Er hatte auch nicht gewusst, dass die für den 11./12. März 1933 geplante und verbotene Gaukonferenz der NaturFreunde Schwaben dennoch heimlich unter freiem Himmel im Rotwildpark durchgeführt wurde und dass sogar noch Ende März 1933 unter dem Thema „Was nun?“ eine illegale (letzte) Sitzung der NaturFreunde-Gauleitung Schwaben stattfand, die die Parole ausgabt: „Kontakte aufrechterhalten und pflegen!“ Er hielt seine Kontakte auch in den Gefängnissen und Lagern aufrecht, pflegte Freundschaften lebenslang und blieb den Werten der NaturFreunde, die seine waren, treu.
Die Nazis verboten die NaturFreunde und weitere Arbeiter*innenorganisationen, verfolgten deren Mitglieder und beschlagnahmten die Häuser und Werte. Einzig die NaturFreunde in der Schweiz und in Amerika konnten während der NS-Zeit weiter bestehen. Die NaturFreunde in den Grenzgebieten – Kletterer*innen, Skifahrer*innen und Wanderer*innen – leisteten aufopfernde Dienste zur Rettung Verfolgter und zum Transport von Material und Informationen über die Grenzen. Lange Zeit konnte so die Verbindung zur Auslandsleitung aufrechterhalten werden.
Das Überleben erweist sich später für viele als übergroße Herausforderung und erneut schlimmes Leiden. Den überlebenden politischen Häftlingen wirft man nach einer amerikanischen Studie sogar vor, dass 14 Gefangene für jeden überlebenden politischen Häftling gestorben wären – welch schrecklicher Ballast für eine*n Widerstandskämpfer*in, der*die sich sein*ihr ganzes Leben lang eingesetzt hat für eine menschliche, solidarische Gesellschaft in Frieden und Freiheit.
Karl Pfizenmaier hatte bereits als Jugendlicher im Stuttgarter Osten die unliebsame Bekanntschaft mit dem als „Kommunistenjäger“ bekannten Polizisten Friedrich Keller gemacht, den man nicht nur im Polizeirevier Ostheim, sondern auch an seinem späteren Arbeitsplatz, der Stuttgarter Gestapozentrale „Hotel Silber“, den „1-2-3-Keller“ nennt. Zeug*innen berichten von den schlimmsten Misshandlungen und Beschimpfungen, die Keller, NSDAP-Mitglied seit 15.3.1933, Männern und Frauen angetan hatte. Der aus dem Elsass stammende Gestapomann bringt es bei seinem späteren Wehrmachtseinsatz in der Strafdivision 999 auf Rhodos bis zum Major.
1936 reißt sich „1-2-3-Keller“ das von den Mitgliedern der NaturFreunde-Ortsgruppe Backnang eigenhändig erbaute Naturfreundehaus Sechselberg, das 1933 von den Nazis beschlagnahmt und der HJ übergeben worden war, unter den Nagel und gibt als seine Adresse bis 1950 (!) „Landhaus Keller Sechselberg“ an. Karl Pfizenmaier muss sich als Geschäftsführer der NaturFreunde, der sich gemeinsam mit Alfred Hausser, VVN, für die Rückführung der von Nazis beschlagnahmten Naturfreundehäuser in den Vereinsbesitz einsetzt, wieder mit den ehemaligen Peiniger*innen herumschlagen. Überlebenden und Kindern von Opfern des Faschismus wurden Erholungsaufenthalte in den wieder in den Vereinsbesitz zurückgeholten Häusern angeboten. Karl Pfizenmaier akquirierte alle nur möglichen Gelder, die für den Wiederaufbau der Naturfreundehäuser und die Jugendarbeit der Ortsgruppen benötigt wurden.
Auch das Sechselberghaus soll am 2.10.1949 wieder neu eingeweiht werden, doch die 1.500 NaturFreund*innen, die mit einem Sonderzug aus Stuttgart angereist sind, sitzen vor verschlossenen Türen, da der Nazi Friedrich Keller sich weigert, das Sechselberghaus herauszugeben und zu verlassen. Ein offener Brief an den Landtag, offene Briefe an die Landespolizei und verschiedene Abgeordnete werden formuliert und abgesandt. Als 1950 der „Aufstieg“ in einem Beitrag mit dem Titel „Vom Saulus zum Paulus“ davon berichtet, dass Keller, der kein Kirchenmitglied ist, mehrfach zusammen mit dem Bischof auf Fotos zu sehen ist, die anlässlich der Kircheneinweihung verkauft werden, besitzt der ehemalige Gestapomann die Frechheit, eine einstweilige Verfügung gegen den „Aufstieg“ zu beantragen. Als das amerikanische Revisionsgericht in Nürnberg endlich den NaturFreunden Backnang das Sechselberghaus zuspricht, sagt Emil Birkert am 5.11.1950 bei der Kundgebung in der dortigen Stadthalle: „Wir Naturfreunde werden den Tag segnen, wo man keine Feldmarschälle mehr benötigt, um die Probleme der menschlichen Gesellschaft mit Brand, Mord und Totschlag zu lösen. An diesem Tag erfülle sich unsere Losung `Berg frei, Völker frei, Welt frei!“
Für Karl Pfizenmaier ist es sicherlich das größte Glück auf Erden, dass er und seine Frau Lydia, die so viele Jahre auf ihn gewartet und um ihn gebangt hat, vier Jahre nach seiner Rückkehr aus den Todeslagern ein Kind bekommen können – ihren geliebten Sohn Roland. Roland ist schon im Kinderwagen mit auf den Wanderungen der NaturFreunde. Roland teilt seine Kindheit und Jugend mit den Kindern der Überlebenden, vor allem der politischen Gegner*innen des Faschismus, die sich mit ihrer Rückkehr zur Aufgabe gemacht hatten, die Jugend aufzuklären, damit sie sich für das „Nie wieder!“ einsetzen und den von den Vätern und Müttern begonnenen Kampf um ein Leben in Frieden und Freiheit fortsetzen.
Über das Unvorstellbare, das sie erlebt hatten, konnten die Überlebenden mit ihren Angehörigen zumeist weder konkret sprechen, noch stellten die Angehörigen die sie bewegenden Fragen. Man stelle sich vor, welche Retraumatisierung ein Überlebender erfährt, der lebenslang immer wieder als Zeuge in Prozessen gegen seine ehemaligen Peiniger*innen aussagen und ihnen begegnen muss. Die unzureichende Aufarbeitung der Geschichte, das Erstarken der Rechten, die Wiederbewaffnung Deutschlands und das KPD-Verbot 1956 waren für die Überlebenden schwer zu ertragen. Sie führten bei vielen der ehemals politisch Aktiven zu einem Rückzug ins Private.
Überlebende geben ihre Traumata an ihre Kinder und Kindeskinder weiter. Sozialwissenschaftlich nachgewiesen zeigen sich bei den Kindern Überlebender erhöhte Gesundheitsgefahren durch „transgenerationale Traumata“. Nicht wenige Kinder Überlebender starben früh oder litten unter Stressanfälligkeit, Depression oder Angststörungen. Auch Roland Pfizenmaier stirbt früh im Alter von nur 66 Jahren.
Karl Pfizenmaier liebt seinen Sohn über alles, nimmt sich viel Zeit für gemeinsame, schöne Erlebnisse. Der Sohn besucht eine Naturfreundejugendgruppe, der Vater hält Vorträge in Naturfreundejugendgruppen, bei Tagungen, besucht Gedenkfeiern, organisiert Gedenkfahrten, damit das Mahnen und Erinnern das „Nie wieder!“ ermöglicht. Der Vater bleibt zwangsläufig sein Leben lang Zeuge, jeder Prozess wühlt ihn wieder auf. Die Jugendweihe des Sohnes findet fast zeitgleich mit der Zeugenaussage im 3. Auschwitzprozess statt und immer wieder kämpft Karl Pfizenmaier um Gerechtigkeit, um eine „Wiedergutmachung“, die über seinen viel zu frühen Tod hinausgeht. Die NaturFreunde Internationale, der Landesvorsitzende Günter Mielau, sein Kamerad Otto Wahl von der Lagergemeinschaft Dachau und Alfred Hausser von der VVN würdigen Karl Pfizenmaier am Grab.
„Nun, was soll geschehen? Meiner Meinung nach ist es nur, ist es Aufgabe auch der heranwachsenden Generation, ein offenes Auge und Ohr für diese Dinge zu haben. Nicht zu ruhen und nicht zu rasten, und dann denken an diejenigen, an alle Stimmen, die da sagen: ‚Lass doch endlich das zufrieden und das in Ruhe!‘
Das könnte man mit gutem Gewissen sagen, wenn man auch wirklich den Eindruck hätte, dass man sich an der Spitze bemüht, dafür einzutreten, dass Derartiges nicht mehr wiederkommen könnte. Aber wir stellen fest, dass man doch sehr langsam und sehr träge ist. Dass wenn eine Geschichte ruchbar wird, dass man sich da windet – bis zum Letzten windet, um aus dieser Geschichte nicht so sehr in die Öffentlichkeit kommen zu lassen.“
Karl Pfizenmaier 1961 bei einem Vortrag für die Verantwortlichen württembergischer Kreis- und Stadtjugendringe
Gudrun D. Greth,
NaturFreunde Untertürkheim-Luginsland