Warum Atomkraftwerke nirgendwo auf der Welt sicher sind

Michael Müller über die Lehren aus der Atomkatastrophe von Fukushima

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Am 11. März 2011 kam es um 14:47 Uhr Ortszeit zur Atomkatastrophe von Fukushima. Auslöser war das sogenannte Töhoku-Erdbeben, das eine Stärke von 9,0 auf der Momenten-Magnituden-Skala erreichte und in seinen Horizontalbewegungen 15 bis 26 Prozent stärker war als die vorgesehene Auslegung der Kraftwerksblöcke. In der Folge schalteten alle sechs Blöcke auf Notkühlung um.

Durch das Erdbeben ausgelöste Tsunamiwellen trafen ab 15:35 Uhr mit einer Höhe bis zu 15 Metern auf das Kraftwerk. Die meerseitig gelegenen vier Reaktorblöcke wurden bis zu fünf Meter hoch überschwemmt. Insgesamt fielen 5 der 6 Generatoren aus, eine ausreichende Kühlung war nicht mehr gewährleistet. Die Unfallkette konnte nicht gestoppt werden. Die Strahlenbelastung stieg stark an.   

Die Kräfte der Natur übertrafen die Sicherheitsvorkehrungen und lösten im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi den zweiten größten (nicht-) angenommenen Unfall (GAU) in der Geschichte der Atomenergie aus. Zur ersten Katastrophe in der „zivilen“ Nutzung der Atomkernspaltung war es am 26. April 1986 in Tschernobyl gekommen.

Der Selbstbetrug mit dem „nuklearen Höllenfeuer“

Der Fukushima-GAU allerdings fand im High-Tech-Land Japan statt. Der Selbstbetrug der Befürworter des „nuklearen Höllenfeuers“, Atomreaktoren in den westlichen Industriestaaten seien sicher, war spätestens jetzt vorbei. Zum zweiten Mal in der Geschichte der Atomenergie war der schaurige Ernstfall eingetreten.

Dabei hatte es auch vorher Beinahe-Katastrophen gegeben, so in den USA beim Reaktor Fermi bei Detroit, beim Brand des AKW Browns Ferry und vor allem in Three-Miles-Island bei Harrisburg, als es fast zur Kernschmelze kam. Auch in Japan traten 1995 im Schnellen Brüter von Monju unkontrollierte Reaktionen auf, 2 Jahre später wurden in der WAA Tokai 35 Menschen schwer verstrahlt. Die Warnsignale waren also da, aber sie wurden nicht beachtet.

In Fukushima kam es in Block 1 bis 3 zur Kernschmelze. Der ebenfalls zerstörte Block 4 war in Revision, seine Brennelemente lagerten im Abklingbecken. Die Blöcke 5 und 6 waren Monate vorher runtergefahren worden. Außerdem befanden sich im Abfalllager des Atomkraftwerks mindestens 10.000 Tonnen kontaminiertes Wasser.

Bis zu 20 Prozent der radioaktiven Emissionen von Tschernobyl vergifteten Wasser, Luft, Böden und Nahrungsmittel. Rund 150.000 Menschen wurden evakuiert, Hunderttausende in der Landwirtschaft zurückgelassene Tiere starben. Die Todesopfer des GAU sind noch schwer zu erfassen, zumal die meisten Informationen von der Betreiberfirma Tokio Electric Power Company (Tepco) stammen. Die japanische Atomaufsichtsbehörde (NISA) nahm vor Ort keine Messungen vor. Sie stufte die Katastrophe in der internationalen Bewertungsskala auf den Höchstwert 7 ein.

Der Schadensumfang bei einem GAU ist nicht zu verantworten

Fukushima machte schlagartig klar, dass  Atomkraftwerke nirgendwo auf der Welt sicher sind. Was nützen die selbstberuhigenden mathematischen Risikorechnungen, die zwar die Eintrittswahrscheinlichkeit als gering herausstellen, sie aber nicht ausschließen können. Die statistische Wahrscheinlichkeit über den Zeitpunkt eines möglichen Unfalls ist nicht vorherzusagen. Er kann am Ende, aber auch am Anfang der Berechnung liegen. Hinzu kommt die zweite Komponente der Risikoanalyse: der bei einem GAU eintretende Schadensumfang, der bei der Atomkraft schlicht nicht zu verantworten ist.

Aus versicherbaren Risiken, die zur Geschichte der Industriegesellschaft gehören, werden durch intolerante Großtechnologien Gefahren, die nicht versicherbar sind. Eine Schwelle wird überschritten, das System von Versuch und Irrtum, dem die Menschheit fast alles zu verdanken hat, funktioniert nicht mehr. Das falsche Vollkommenheitsideal einer irrtumsfreien Technik riskiert zwar nicht das Ende der Welt, aber in radioaktiv verstrahlten Regionen auch nicht viel weniger, nämlich das Ende einer menschlichen Welt und eines humanen Lebens.

Die Möglichkeit des Irrtumslernens ist, wie sowohl die Klimakrise als auch die atomare Kernschmelze zeigen, sowohl durch die Quantität der Naturbelastungen als auch durch eine fehlerfeindliche Großtechnologie bedroht. Diese Erkenntnis verlangt vom Menschen das Prinzip Verantwortung – oder er wird selbst zum gefährlichen Störfaktor.

Die Entwicklung in Deutschland

In unserem Land gibt es seit dem GAU vom 26. April 1986 in der ukrainischen Atomzentrale von Tschernobyl, als der Block 4 des Lenin-Kraftwerks außer Kontrolle geriet, eine stabile Mehrheit für den Ausstieg aus der nuklearen Stromversorgung. Die SPD hatte sich bereits 1984 auf ihrem Parteitag in Essen für einen Ausstieg aus der Atomenergie entschieden, die auf dem Godesberger Parteitag 1956 noch mit großen Erwartungen gefeiert worden war.

Im Jahr 2000 wurde dann nach zweijährigen Verhandlungen der rot-grünen Bundesregierung mit den vier Betreiberfirmen EnBW, RWE, Vattenfall und VEBA ein Abschalten der deutschen Atomkraftwerke bis spätestens 2032 vereinbart.

CDU/CSU und FDP taten dagegen die Katastrophe von Tschernobyl als Folge der unsicheren östlichen Technologie ab. Was scherte es die Führung der Union, dass nur wenige Wochen vor dem GAU der bayerische Umweltminister Alfred Dick den sowjetischen RBMK-Reaktor von Tschernobyl noch als vergleichbar sicher mit westlichen Typen bewertet hat.

Auch Gorbatschow spielte bei Tschernobyl keine aufklärerische Rolle

Der Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalny, zu Deutsch etwa Hochleistungs-Reaktor mit Kanälen, ist ein graphitmoderierter, wassergekühlter Siedewasser-Druckröhrenreaktor mit erheblichen Defiziten in den Sicherheitssystemen. Insgesamt sollten 26 dieser Reaktoren gebaut werden, von denen neun aber nicht fertiggestellt wurden. Von den 17 in Betrieb genommenen Reaktoren waren Ende 2019 noch 10 in Betrieb. Der letzte soll 2050 stillgelegt werden. Auch Michail Gorbatschow, der 1986 die politische Verantwortung in der UdSSR hatte, spielte bei Tschernobyl keine überzeugende, schon gar keine aufklärerische Rolle.

In der großen Koalition von 2005 bis 2009 taten die Betreiberfirmen alles, um durch Still- und Revisionszeiten vorgesehene Abschaltungen über den Wahltermin hinauszuschieben. CDU/CSU und FDP wollten die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke verlängern und taten das auch im Jahr 2010 mit ihrer neuen Mehrheit.

Dann kam Fukushima. Unter dem Druck der öffentlichen Proteste zeigte sich die Bundeskanzlerin, die bis dahin keinen Zweifel an ihrer Pro-Atomhaltung gelassen hatte, wieder einmal als „flexibel“ und drehte sich um 180 Grad. Sie verfolgte fast die identischen Ausstiegsfristen wie die Regierung Schröder. Aber sie besaß dennoch nicht die Größe, zu der früheren, mit den Atomkonzernen ausgehandelten Linie zurückzukehren.

Es kam zur Änderung des Atomgesetzes, was die Betreiber dafür nutzten, gegen die Bundesregierung auf Entschädigung zu klagen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind Milliardenbeträge fällig, die hätten vermieden werden können.

Union und FDP haben kein Konzept für eine wirkliche Energiewende

Trotzdem ist es Angela Merkel gelungen, dass ein großer Teil der Öffentlichkeit nicht 2000, sondern den Fukushima-GAU von 2011 als Ausstiegsdatum nennt. Auch das ist typisch für das System Merkel, das alles auf sich zu ziehen sucht, ohne selbst gestalten zu wollen.

Und bis heute haben Union und FDP kein Konzept für eine wirkliche Energiewende, die sowohl eine solare Basis als auch eine drastische Reduktion des Energieumsatzes erfordert. Effizienzrevolution, erneuerbare Energien, Dezentralisierung und Demokratisierung müssen eine Einheit werden. Umbau und Vermeiden gehören zusammen.

Der Ausbau der Atomenergie war ein großer Fehler. Die Atomkernspaltung wurde nach ihrer Entdeckung durch Otto Hahn und Fritz Strassmann 1938 zu einem militärischen Projekt. Um von dem Schrecken der Atombomben abzulenken, kam es 1953 zu dem Programm „Atoms for Peace“, das von US-Präsident Eisenhower vorangetrieben wurde.

Der harte Weg der Stromerzeugung setzt auf große Kraftwerke, lange Übertragungsnetze und steigende Nachfrage. Und er ist teuer und ineffizient. Ein Atomkraftwerk kommt beim Effizienzgrad in der Nutzung nur auf rund 30 Prozent. Das ökologische Konzept der Energiedienstleistungen ist damit nicht möglich. Es setzt sowohl auf Vermeiden als auch auf erneuerbare Energien. Doch die Energiewende wurde immer mehr gedeckelt und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat mit ökologischen Innovationen wenig am Hut.

Die Atomenergie taugt nicht für den Klimaschutz

Es ist aber alarmierend, dass in einigen Ländern wieder auf Atomkraft gesetzt wird, auch mit der falschen Begründung der Klimaverträglichkeit. Abgesehen davon, dass die Pest nicht mit Cholera zu bekämpfen ist, geht die Behauptung der klimaneutralen Atomenergie in die völlig falsche Richtung.

Nicht nur, weil über die gesamte Kette vom Ressourcenabbau über die Wandlung bis zur Nutzung auch Kohlendioxid emittiert und eine GuD-Kraftwerk auf Gas-Basis besser dasteht, ist die entscheidende Frage eine andere: Unter welchen Bedingungen können die Treibhausgase am stärksten reduziert werden? Das ist systembedingt nicht die Atomkraft, sondern eine Ökonomie des Vermeidens, die möglichst hohe Effizienz- und Vermeidungsziele möglich macht. Dabei muss die Steigerung der Energieeffizienz deutlich höher sein als das wirtschaftliche Wachstum.

Die Klima-Enquete des Deutschen Bundestags hat sich ausführlich mit der Rolle der Atomenergie beschäftigt. Das einstimmige Ergebnis war: Der entscheidende Hebel für Klimaschutz ist der Umbau hin zu Energiedienstleistungen. Nur dann wird es möglich, Wirtschaft und Gesellschaft klimaverträglich zu machen. Die Atomenergie muss eine kurze, wenn auch teure und riskante Epoche technischer Überheblichkeit bleiben.

Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands