Vor 35 Jahren kam es in Tschernobyl zum größten (nicht-) angenommenen Unfall (GAU) in der zivilen Nutzung der Atomkraft. Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands, erinnert an diese Katastrophe und warnt vor populär werdenden Ideen, das Klimaproblem mit der Atomenergie zu lösen.
Am 26. April 1986 geriet Block 4 der ukrainischen Atomzentrale von Tschernobyl bei einem fahrlässig durchgeführten Versuch außer Kontrolle. Vorausgegangen war eine Kette von Fehlern, Überforderung und Schlamperei. Plötzlich stieg die Reaktorleistung um ein Vielfaches an, eine Schnellabschaltung gelang nicht mehr. Bei den darauf folgenden Explosionen verdampften rund 50 Tonnen Kernbrennstoffe und zogen als radioaktive Wolke grenzenlos über Europa.
Den Reaktor versuchten 200.000 sogenannte Liquidatoren abzudichten, was viele von ihnen mit dem Leben bezahlten. Moskau gibt offiziell nur 31 Opfer an, Schätzungen zufolge starben jedoch bis zu 93.000 Menschen an den Folgen des GAU. In der Ukraine und in Weißrussland stieg die Krebsrate rasant an. „Tschernobyl-AIDS“ wurde die Zerstörung der Körperabwehr genannt.
Tschernobyl war der Einschnitt in der Nutzung der Atomenergie und löste in der Bevölkerung ein dauerhaftes Umdenken aus. Die Wolke von Tschernobyl wurde zum Symbol für ein wahnsinniges Spiel mit dem Feuer. Die Eintrittswahrscheinlichkeit eines GAU ist zwar gering, aber real. Der dabei entstehende Schadensumfang ist dann allerdings unverantwortlich.
Die Nutzung der Atomenergie markiert den Wendepunkt von der ersten zur zweiten Moderne. War die erste Moderne eine Zeit beherrschbarer Risiken, kennzeichnet die zweite die Rückkehr nicht versicherbarer Gefahren. Neben der Atomenergie gehört auch die globale Klimakrise in diese Kategorie. Allerdings kann man weder den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, noch sind die systembedingten Organisationsformen der Atomenergie in der Lage, das globale Klimaproblem zu lösen. Sie ist auf einen möglichst hohen und ineffizienten Stromverbrauch ausgelegt.
Die Mahnung von Tschernobyl bleibt, nicht nur einzelne Gefahren zu sehen, sondern die Herausforderung zu bewältigen, dass die Menschheit jenseits von Technikgläubigkeit und Wirtschaftswachstum eine neue Idee des gesellschaftlichen Fortschritts braucht.