70 Jahre Grundgesetz: Wie es vier Frauen gelang, Gleichberechtigung zu schaffen

Ein Gastbeitrag von Herta Däubler-Gmelin, Bundesjustizministerin von 1998 bis 2002

Am 23. Mai feiern wir den 70. Jahrestag des Inkrafttretens unseres Grundgesetzes. Da ist es gut, an die Visionen der kleinen Expert*innengruppe im Parlamentarischen Rat zu erinnern, die eine stabile Grundlage für unsere rechtstaatliche und soziale Demokratie geschaffen hat.

Besonders wichtig ist es mir dabei, an die Rolle der 4 – in Buchstaben: vier – Frauen zu erinnern. Vier unter 68 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates: Sie haben es geschafft, die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen unter die jederzeit einklagbaren Grund- und Menschenrechte aufzunehmen.

Das lag insbesondere an Elisabeth Selbert: Lange stand alles auf Messers Schneide, weil viele Männer auf dem Ohr der Gleichberechtigung ziemlich schwer hörten. Elisabeth Selbert, Friederike Nadig, Helene Weber und Helene Wessel haben deshalb mobilisiert und unglaublich viele Frauen dazu gebracht, ihre Forderung nach Gleichheit per Postkarte an den Parlamentarischen Rat zu senden. Allem Hunger, allen Problemen der Nachkriegszeit und allen übrigen Widerständen zum Trotz.

Das war ein großartiger Anfang. Allerdings hat die Realisierung gleicher Rechte und Chancen – teilweise – bis heute gedauert. Das Bundesverfassungsgericht und auch der Europäische Gerichtshof haben dabei geholfen. Ohne die ständige Unterstützung der Frauen selbst, aber auch der Politik und vieler Männer, kommen wir nur langsam voran. Als Nächstes wäre ein umfassendes Parité-Gesetz gut, das die Partizipation der Frauen auf allen Ebenen der Politik, aber auch in Verbänden und Wirtschaft sichert.

Lesetipp Broschüre "Mütter des Grundgesetzes" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Oktober 2018

Zum 70. Geburtstag unserer Verfassung sollten wir jedoch auch andere Herausforderungen ins Visier nehmen. Ich halte es heute für das Wichtigste, dass Politik, Wirtschaft und wir alle endlich die planetarischen Grenzen zur Kenntnis nehmen, die Klimaschutz und Ressourcenschonung verlangen. Nicht irgendwann, sondern jetzt sind wirksame politische Entscheidungen nötig.

Die Zeit läuft aus, in der wir Nachhaltigkeit und eine friedliche Zukunft noch steuern können. Denn wir wissen: Die Erderwärmung schreitet voran, Entscheidungen dürfen nicht mehr hinausgeschoben werden. Das muss die Politik begreifen. Und wir in der Zivilgesellschaft müssen der Politik Beine machen.

Heute regen sich viele über die Flüchtlings- und Migrantenzahlen auf. Die steigen weltweit. Wer wirklich helfen will, muss dafür sorgen, dass auch wir unseren Beitrag dazu leisten, dass die Menschen in ihrer Heimat leben können und eine Zukunft haben. Sonst suchen sie sich einen anderen Platz zum Leben für sich und ihre Familien. Auch bei uns. Was zu tun ist? Ganz sicher brauchen wir mehr internationale Kooperation und weniger Export von Waffen und Rüstungsgütern.

Genauso wichtig ist es jedoch, dass Industrienationen wie Deutschland endlich die Endlichkeit der Rohstoffe und Ressourcen akzeptieren und aufhören, ständig mehr davon zu verbrauchen, als uns zusteht. Tun wir das nicht, so werden unsere Kinder und Enkel immer mehr Kriege und Konflikte um Rohstoffe fürchten müssen. Eine friedliche Gesellschaft werden sie nicht mehr haben.

Deshalb brauchen wir bald die politische Entscheidung, dass, sagen wir ab dem Jahr 2035, zumindest bei uns und in der EU nichts mehr produziert, gehandelt, im- oder exportiert wird, was nicht vollständig recycelt, also wiederverwertet werden kann. Unsere hervorragenden Wissenschaftler*innen, Techniker* innen und übrigen Fachleute sind längst dazu in der Lage; sie können damit auch die Grundlage für neue Arbeitsplätze für die nächsten Generationen schaffen. Und wir können uns darauf einrichten. Es gilt also noch viel zu tun.

Freilich ist auch die Politik verantwortlich, der wir Beine machen müssen. Aber auch wir müssen unsere Verantwortung sehen. Sie gehört ebenfalls zum Auftrag unserer Verfassung. Wir sollten deshalb dafür sorgen, dass wir am 23. Mai nicht nur das Grundgesetz, sondern auch den baldigen vollständigen Kohleausstieg und die verbindliche politische Entscheidung für die vollständige Recyclingwirtschaft feiern können.

Herta Däubler-Gmelin
Bundesjustizministerin von 1998 bis 2002