Warum ein neues Atomrüsten droht

Die Kündigung des INF-Vertrages könnte in diesem Sommer Realität werden

Es war nur ein Tweet, aber einer, der die Welt verändern könnte: Via Twitter gab US-Präsident Donald Trump Anfang des Jahres bekannt, den Vertrag über das Verbot von atomaren Mittelstreckenraketen aufzukündigen, den so genannten "Intermediate Range Nuclear Forces"-Vertrag, kurz INF.

Das wäre sein gutes Recht, argumentierte Trump, denn INF-Vertragspartner sind lediglich die USA und Russland. Doch die Kündigung eines 30 Jahre gültigen Abrüstungsvertrages dürfte in Europa und Asien eine neue Rüstungsspirale auslösen. Umso mehr, als sich Russland keineswegs entsetzt von der Kündigung zeigte. Präsident Wladimir Putin stimmte fast freudig zu.

Der INF-Vertrag regelt das Verbot der Stationierung von bodengestützten atomaren Mittelstreckenraketen durch die Unterzeichnermächte Russland (ehemals Sowjetunion) und USA. Zustande kam der Vertrag nach Jahren von Massenprotesten in Europa gegen die Stationierung von Pershing-II (USA) und SS-20-Raketen (UdSSR). Das Schlachtfeld für diese Raketen wäre Europa gewesen. Doch Millionen Menschen protestierten auf den Straßen. Insbesondere die in den USA diskutierte "Enthauptungsstrategie" beunruhigte die Menschen. Gemeint war ein Mittelstreckenraketenangriff auf die Kommandozentralen der UdSSR ohne Vorwarnzeit, um deren Zweitschlagfähigkeit ausschalten zu können.

Die Friedensbewegung fand sich daraufhin in einer ungeahnten Größe zusammen. Sie versammelte sich auf einer Plattform namens "Krefelder Appell" und gewann vier Millionen Unterstützer*innen. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt, der die sogenannte Nachrüstung mit Pershing-II-Raketen zu seinem persönlichen Anliegen gemacht hatte, sah sich zunächst als Antipode einer kleinen Minderheit von Jungsozialist*innen, die für Abrüstung plädierten und mit Parteiausschluss bedroht wurden. Ich gehörte dazu und unterzeichnete als einer der ersten einer höheren SPD-Organisationseinheit (Bezirk Mittelrhein) den Krefelder Appell.

Auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung in Westdeutschland blieb Schmidt schließlich mit nur 13 Getreuen auf dem Kölner SPD-Parteitag 1983 in der Minderheit. In der DDR ließ Erich Honecker die "Freie Deutsche Jugend" und die Kinderorganisation "Pioniere" skandieren: "Der Frieden muss bewaffnet sein!" Es sollte einer der Gründe des Scheiterns der DDR werden, deren aufkommende Bürger*innenbewegung "Schwerter zu Pflugscharen" forderte.

Michail Gorbatschow gelang es schließlich im Jahr 1987, als neuem Generalsekretär der UdSSR, die Spannungen aufzulösen. Er schloss mit US-Präsident Ronald Reagan einen bis dahin beispiellosen Friedensvertrag, mit dem beide Seiten auf die Stationierung von bodengestützten Mittelstreckenatomraketen verzichten wollten. Zudem wurde ein wirksames Überwachungssystem installiert. Kein Friedensvertrag dieser Bedeutung hat jemals solange gehalten.

Seit der Aufkündigung gilt eine sechsmonatige Frist, in der Russland und die USA verhandeln könnten. Gibt es keinen Kompromiss, ist der INF-Vertrag im Juli 2019 Geschichte. Leidtragend wird Europa sein, das sich erneut mit der möglichen Stationierung neuer Atomwaffen auseinandersetzen muss. Bei einem Wegfall des INF-Abkommens werden sich Mittelmächte wie Frankreich, Türkei, Iran, aber auch Israel überlegen, ob sie bei einer neuen Aufrüstungsrunde mit Mittelstreckenraketen mitziehen.

Möglicherweise benötigen die USA Deutschland nicht mehr, um neue Atomraketen zu stationieren, weil das in Rumänien oder Polen erfolgt. Aber wesentliche Kommandozentralen verbleiben in Stuttgart und in der Pfalz. Und die russische Kleptokratie mit ihrem Oligarchensystem braucht dringend demokratische Veränderung. Genügend Aufgaben für eine neue Friedensbewegung.

Hans-Gerd Marian